Werner Seelenbinder: Der Rote Ringer

Im Mai 2017 fand in Erfurt unsere Bundeskonferenz statt. Tagungsort war die „Alte Parteischule“ in der Werner-Seelenbinder-Straße. Straßen mit diesem Namen gab es viele in der DDR – richtigerweise, aber aus den falschen Gründen. 

Sohn seiner Klasse

1904 in Stettin geboren, zieht Seelenbinder fünf Jahre später mit seiner Familie nach Berlin-Friedrichshain. Dort besucht er die Volksschule, arbeitet als Transportarbeiter und beginnt im Arbeiter*innensportverein „Eiche“ mit dem Kraftsport. Als 1915 seine Mutter verstirbt und sein Vater fast zeitgleich zum ersten Weltkrieg eingezogen wird, fängt Seelenbinder beim SC Berolina in Neukölln mit dem Ringen an.

Werner taktiert nicht; sein Stil ist direkt und ungestüm. Vereinskolleg*innen beschreiben ihn als fair, zäh, ausdauernd und bescheiden: Da er Schaukämpfe zur Publikumsbelustigung ablehnt, geht er schlecht bezahlten Berufen wie Page oder Hilfstischler nach, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren.

Bei der Arbeiter*innenolympiade in Frankfurt am Main belegt er 1925 den ersten Platz, 1928 bei der Spartakiade in Moskau1 gewinnt er Gold im Halbschwergewicht. Die sowjetischen Sportkamerad*innen nennen seinen berüchtigten Hüftwurf den „Seelenbinder“. Im gleichen Jahr wird er Mitglied der KPD.

Als er im August 1933 den deutschen Meistertitel erringt, verweigert er während der Siegerehrung öffentlich den Hitlergruß. Daraufhin wird er verhaftet, von der Gestapo verhört und in das KZ am Columbiadamm verschleppt. Auf Druck des Ringer-Verbands kommt Werner wieder frei, nach einigen Monaten folgt sogar die Aufhebung der Wettbewerbssperre. Natürlich nicht aus Menschlichkeit: Die Nazis brauchen ihn als besten Ringer seiner Gewichtsklasse, um bei der Olympiade 1936 in Berlin seinen sportlichen Erfolg propagandistisch auszuschlachten.

 Protest auf dem Podest

Trotz der Verhöre durch die Gestapo und seiner Erfahrungen im KZ bleibt Seelenbinder widerständig. Er nutzt Auslandsreisen zu Wettbewerben um sich mit Genoss*innen auszutauschen und schmuggelt kommunistisches Propagandamaterial. Außerdem hat er einen Plan: ein Sieg bei Olympia. Auf dem Podest will er diesmal sogar eine Rede gegen Hitler und das Nazi-Regime halten – ein unwiderlegbares, weltweit beachtetes Zeichen dafür, dass es nicht nur systemkonformen Gehorsam, sondern auch Widerstand gibt. Leider bleibt der Erfolg aus. Er wird lediglich Vierter.

Anschließend wird Werner Seelenbinder noch drei Mal deutscher Meister. Ab 1938 zieht er sich zurück und verdingt sich als Schweißer im Mariendorfer Eisenwerk Wannheim. So lebt er drei Jahre lang unbehelligt, bis ihm seine Solidarität zum Verhängnis wird: Er gewährt seinem alten Freund und Genossen Alfred Kowalke, einem hohen KPD-Funktionär, Zuflucht, wird aber von einem Spitzel verraten. Am 4. Februar 1942 wird er von der Gestapo verhaftet. Es folgen zweieinhalb Jahre Qual und Folter in diversen Gefängnissen und KZs, wie den „Arbeitserziehungslagern“ Wuhlheide und Landsberg an der Warte. Zusammen mit 57 Mitgefangenen wird Werner am 24. Oktober 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden auf dem Schafott „ohne Widerstreben“ hingerichtet.

Hier vergöttert, dort verdrängt

Ein Märtyrer war er nicht, auch wenn die realsozialistische Staatsbourgeoisie ihn inflationär so stilisierte. Er richtete drei Gnadengesuche an das Nazi-Regime. Er wollte nicht sterben, sondern leben. 

In der DDR wurde Seelenbinder nach dem Krieg zu einer tragischen Heldenfigur gemacht. Die Biografie “Der Stärkere” ist ein verklärendes Epos und prägte das Bild der DDR-Geschichtsschreibung. In der alten Bundesrepublik blieb seine Geschichte hingegen lange Zeit unbeachtet. Lediglich das Sportzentrum in der Neuköllner Oderstraße wurde nach ihm benannt, zumindest von 1945 bis 1949. Das Gedenken an einen kommunistischen Widerstandskämpfer war ein unbequemer Widerspruch zur bundesdeutschen Verdrängungskultur und dem Antikommunismus des Kalten Krieges. Erst seit 2004 trägt das Sportzentrum wieder seinen Namen. 2008 wurde er endlich in die „Hall of Fame“ des deutschen Sports aufgenommen.

Eric Montag, KV Erfurt

  1. Die sowjetkommunistische Version der Olympiade