Jugendkulturelle Umbrüche in Ost und West: Die Falken in den neuen Bundesländern nach 1989

Dreißig Jahre nach der politischen Wende in der DDR blickte das Archiv der Arbeiterjugendbewegung1 in seiner jährlichen Tagung im Januar 2019 auf das Jahr 1989 und den Aufbau sozialistischer Jugendorganisationen in den neuen Bundesländern zurück. Nicht nur das politische System hatte sich auf ostdeutschem, ja: osteuropäischem Boden verändert, alle Gesellschaftsbereiche waren mehr oder minder intensiv betroffen – nicht zuletzt jugendliche Lebenswelten. 

Die 1980er Jahre in der DDR galten insbesondere für junge Menschen als ambivalente Zeit zwischen Hoffnung auf Aufbruch und Veränderung sowie Verunsicherung durch beispielsweise den Nato-Doppelbeschluss und den weiterhin latenten Ost-West-Konflikt. Der hinzukommende Missmut mit der als reformunfähig wahrgenommenen SED-Regierung in der DDR äußerte sich in Protesten, etwa der Friedensbewegung oder kirchlichem Engagement. Grundsätzlich aber fühlte sich das Gros der DDR-Bürger*innen solidarisch mit der DDR und auch dem sowjetischen System, insbesondere durch die Wandlungspolitik unter Gorbatschow. 

Mit 1989 wurde die politische Wandlung zwar Realität, doch im Kleinen zeigten sich gravierende Leerstellen. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) beispielsweise, die jahrzehntelang junge Menschen ab dem 14. Lebensjahr begleitet hatte, verschwand nahezu sang- und klanglos. Neue Formen der Einbindung von Kindern und jungen Menschen, der Orientierung sowie sinnvolle Freizeitaktivitäten jenseits von Schule und Familie waren nicht von heute auf morgen zu finden. 

Aufbau im Osten

Die SJD – Die Falken waren nicht der einzige Jugendverband, der sich in Ostdeutschland um diese jungen Menschen bemühte. Aber: das Sozialistische im Namen, das Blauhemd als Kluft, „Freundschaft“ als Grußwort waren Gemeinsamkeiten mit der FDJ, die es besonders spannend machen, den Ausgangspositionen, Selbstverständnissen und Perspektiven der Falkenarbeit in der ehemaligen DDR nachzugehen – allesamt Fragen, die weniger erforscht sind, als man denken mag. Viele dieser Aspekte wurden auf der Archivtagung in Vorträgen und Zeitzeug*innengesprächen diskutiert: Wie sah die Aufbauarbeit vor Ort aus? Welchen Herausforderungen musste begegnet werden? Gab es Unterstützung von staatlicher, parteilicher oder verbandlicher Seite? Wie wurden Mitglieder gewonnen? Welche Grundsatzdiskussionen um die Selbstverständnisse und Perspektiven der eigenen Arbeit wurden geführt?

Dabei war zunächst die Feststellung wichtig, dass die DDR in sich weitaus differenzierter war, als dies (teilweise bis heute) angenommen wird. Es gab oppositionelle Gruppierungen, jugendkulturelle Bewegungen und Subkulturen, wie die Blueserszene, Punks, Grufties oder Skinheads. Trotz unterschiedlichster Couleur sei man sich in einem einig gewesen, so berichtete der Jugendforscher Klaus Farin: „Dieses Land ist es nicht“ (Rio Reiser). Nach all der Aufruhr, der Aufbruchstimmung, den neuen Ideen, die aufgeworfen wurden, waren die Folgen von 1989 besonders ernüchternd: Die Menschen in der DDR, jung wie alt, die zuvor auf die Straße gegangen waren, glaubten, dass sie in diesem Neubeginn eine wichtige Rolle spielen könnten – als Träger der friedlichen Revolution, als Ortskundige, als engagierte Bürger*innen. Doch statt Demokratie, so spitzte Farin auf der Archivtagung zu, gab es nur neue Herren: „Keine Wiedervereinigung, sondern ein Anschluss, eine ‚Kolonisierung‘ der DDR. Auch die Verbände – Jugendverbände – haben sich einfach in den Osten ausgedehnt, auch die Strukturen.“ Die Folge dieser geringen Partizipationsmöglichkeiten war eine Abkehr von der Demokratie und von den sie repräsentierenden Institutionen. 

Eine schwierige Ausgangslage, um als Jugendverband aus dem Westen Fuß zu fassen. Der Vorteil der SJD – Die Falken lag hier sicherlich in einer gewissen Neugierde auf andere Lebenswelten, wie die Sozialarbeiterin Elvira Berndt erzählte. Diese Unvoreingenommenheit mag auch darin begründet liegen, dass die SJD – Die Falken von der politischen Entwicklung in der DDR durchaus überrascht wurden und entsprechend keine Pläne für einen Aufbau des Verbandes in Ostdeutschland vorlagen. Nachdem man sich aber nach heftigen Debatten auf dem Kasseler Bundesausschuss 1989 für eine Ausdehnung des Organisationsgebietes entschieden hatte, konnte der Aufbau im Jahr 1990 beginnen. Sukzessive wurden Falkenbüros in den neuen Bundesländern eingerichtet – zuerst in Ost-Berlin, es folgten Thüringen und Brandenburg im Jahre 1990, Mecklenburg-Vorpommern und schließlich Sachsen im Jahre 1991.

Wie ging es weiter?

Die Ausgangslage in Brandenburg beispielsweise war miserabel: Weder unterstützende Strukturen und Personal, noch Infrastruktur oder finanzielle Mittel waren ausreichend vorhanden. Dennoch widmete man sich in den verschiedenen Landesverbänden alsbald der Kinder- und Jugendarbeit in Form von Gruppenstunden, Zeltlagern, Gedenkstättenfahrten, der Teilnahme am IFM-Camp, Rosa- und Karl-Wochenenden und Winterschulen. All dies machte die SJD – Die Falken zusehends bekannter. 

Die Besonderheit ihrer Arbeit in den neuen Bundesländern war den Falken bewusst, die Notwendigkeit aber auch: „Nach dem Zusammenbruch der staatlich organisierten Kinder- und Jugendarbeit gibt es kaum noch nicht-kommerzielle Angebote für Kinder und Jugendliche. Die sich verschärfende soziale Situation (Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit) wirkt sich ebenfalls immer stärker auf Kinder und Jugendliche aus“, so konstatierte Andreas Strothmann, der den Landesverband Brandenburg mitgegründet hatte. Problematiken ergaben sich aber nicht nur aus strukturellen, finanziellen oder personellen Gründen, sondern zugleich aus politisch-ideologischen: Gerade eine Organisation wie die Falken, die sich den Sozialismus auf die Fahnen geschrieben hatte, musste sich gegenüber dem – noch kurz zuvor real existierenden – Sozialismus in der DDR und Sowjetunion positionieren. Dies passierte vielfach lapidar, so in einem Positionspapier als Beschluss des Bundesausschusses vom 17.2.1990: „Mit dem Zerfall des ‚realexistierenden Sozialismus‘ ist die Ära einer totalitär-bürokratischen Parteidiktatur zu Ende gegangen, die wir nie als eine Verwirklichung des Sozialismus akzeptiert haben, die uns aber immer wieder als Bild des Sozialismus vorgehalten wurde, und die den Namen des Sozialismus diskreditiert hat. […] Der massiven antisozialistischen Kampagne kann nur dadurch begegnet werden, daß wir an die ursprüngliche Idee des Sozialismus anknüpfen. Es ist die Vorstellung einer Gesellschaft der Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Alle diese drei Grundprinzipien hängen zusammen, ein Prinzip ist ohne das andere nicht denkbar.“ In Kontakt mit anderen bot das sozialistische Selbstverständnis in der Praxis sowohl Basis als auch Konfliktpotential. Die verschiedenen Welten – hier die (westlichen) Verbandsmitglieder der Falken, dort die jungen Menschen der ehemaligen DDR – kamen nicht immer harmonisch zusammen. So war für viele Jugendliche der ehemaligen DDR der Begriff des Sozialismus „verbrannt“, das Blauhemd wurde von verschiedener Seite ebenso wie der Freundschafts-Gruß und die Falken-Fahnen als Provokation wahrgenommen. Antifaschismus hingegen wurde vielfach als einendes Element diskutiert. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, wenn auf den ersten Zeltlagern der neuen Ostverbände der Aufprall verschiedenster Alltagskulturen live miterlebbar wurde. 

Verstärkt wurde dies nochmals durch die über Jahrzehnte in den Traditionen der demokratisch-sozialistischen Kinder- und Jugendbewegung gewachsenen Strukturen und Aktionsformen der SJD – Die Falken westlicher Prägung. Als Lösung galt es, bei der Aufbauarbeit die jungen Menschen vor Ort aktiv in die Falkenarbeit zu integrieren und ihnen Gestaltungsspielraum zu geben. Nur über eine solche Mitbestimmung und Solidarität, die Betonung von Freiräumen, die der*die Einzelne mit eigenen Ideen und Interessen ausfüllen konnte, sollte es gelingen, der Orientierungslosigkeit von jungen Menschen und einer potenziellen Demokratiedistanz etwas entgegenzusetzen. 

Obgleich man bisweilen neidisch auf die Häuser, Mitgliederzahlen und Strukturen westlicher Verbände geschielt hatte, so gelang es – auch vor dem Hintergrund eines organisationspolitischen Niedergangs des Verbandes in den alten Bundesländern – eine neue, stabile und aus sich selbst tragende Struktur aufzubauen, wenn auch mit ungleichmäßiger Entwicklung: Während einige Kreisverbände ihre Arbeit komplett einstellen mussten, sind beispielsweise die Brandenburger Falken nach wie vor sehr sichtbar und bringen sich mit politischen und selbstbestimmten Aktionen ein. Andreas Strothmann schloss seine Erinnerungen zu den Aufbaujahren mit den Worten: „[W]enn Du am Abend in der Kneipe in Potsdam saßt und sagtest zu Kneipenbesuchern, Du kämst von den Falken, dass die was damit anfangen konnten. Das war schon höchst erstaunlich und sehr erfreulich.“

Maria Daldrup, Archiv der Arbeiterjugendbewegung

  1. Es handelt sich hier um eine gekürzte Fassung eines Artikels zur Jahrestagung des Archivs derArbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick: Maria Daldrup/Sophie Reinlaßöder unter Mitarbeit von KatrinAugsten, Kalle Kusch, Jürgen Hitzges, Volker Honold, Eric Schley, Stephan Thiemann, Steffen Wiechmann:Jugendkulturelle Umbrüche in Ost und West. Einblicke in die Archivtagung 2019: „Der Aufbau sozialistischerJugendorganisationen in den neuen Bundesländern nach 1989“, Mitteilungen des Archivs derArbeiterjugendbewegung (2019) I, S. 13-29.