#baseballschlaegerjahre: Deutsche Kontinuitäten

Neunzehnhundertneunzig

Ende September 1990 war ich in der BRD gerade in die 11. Klasse gekommen und galt in meiner bildungsbürgerlichen Schule als das, was ein paar Jahre später nur noch „Zecke“ heißen sollte. Westdeutsch sozialisiert wurde mir vor der Wende oft empfohlen nach „drüben“ zu gehen. Das war die freundliche Variante. Die weniger Freundliche: in den Sack packen und über die Mauer werfen. Der Tag der deutschen Einheit stand erstmalig bevor. „Weltgeschichte“ wie mein Geschichtslehrer betonte. Die man feiern müsse. Ich war anderer Auffassung.

Neunzehnhundertdreiundneunzig

Ziemlich genau drei Jahre später ging ich nach Berlin. In Berlin gab es aber genug Zecken. Gemeinsam mit Genoss*innen aus meinem Jugendverband beschlossen wir, linke Strukturen in Brandenburg aufzubauen – und so waren viele von uns bald mehr in Brandenburg als in Berlin unterwegs. Das war Mitte der Neunziger. In dem Zeitraum, der in den letzten Monaten als #baseballschlägerjahre durch die Medien ging und die Manja Präkels in ihrem sehr lesenswerten Buch „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ ins Bewusstsein zurückholt.

Neunzehnhundertvierundneunzig ff.

Ich habe diese Baseballschlägerjahre aus einer privilegierten Position heraus miterlebt: ich fuhr nach Gruppentreffen, nach Veranstaltungen, Demonstrationen und Partys zurück ins relativ sichere Berlin. Die Genoss*innen vor Ort mussten bleiben. Sie ertrugen die Bedrohung, sie hatten keine Wahl. Die Angst auf dem Schulweg, von der Schule nach Hause, auf dem Weg zu Partys und in den Jugendclub. Ich glaube – Ironie der Geschichte – sie hatten viel weniger Angst als wir, die wir aus Berlin kamen und mit den Orten, den Sozialstrukturen und dem Leben in der Savanne nicht vertraut waren. Und doch haben viele von ihnen, unabhängig davon, ob der rassistische Mob über sie hergefallen und sie ins nächste Krankenhaus geprügelt hat oder nicht – bis heute einen an der Klatsche, wenn sie in ihre Dörfer zurückkehren. Hier soll aber nicht über andere geurteilt werden, die deutlich mehr Bedrohung erfahren haben, die regelmäßig damit konfrontiert waren, dass die Völkischen über sie oder Freunde herfielen.

Alltagsbedrohung, Umgang und (Spät)folgen

Ich kann nur feststellen: ich habe bis heute einen an der Klatsche. Vor allem wenn ich mich abends durch Brandenburg bewege. Die Zeit hat Spuren und Verhaltensweisen hinterlassen, die ich scheinbar nicht mehr ablegen werde.

Wenn ich alleine mit dem Zug durch Brandenburg fahre, steige ich bis heute immer in den ersten Waggon ein. Das habe ich mir angewöhnt in den Neunzigern. Auf den vielen Fahrten nach Blankenfelde, Mahlow, Zossen, Bad Freienwalde, Frankfurt/Oder, Rathenow, Senftenberg. Vom ersten Wagen aus konnte man immer den Bahnsteig nach Nazis abscannen und im Zweifelsfall den Zug schnell verlassen. 

Das funktionierte nicht immer, gab aber ein größeres Sicherheitsgefühl. Als wir auf dem Weg zum Gruppentreffen nach Frankfurt waren, stieg in Pillgram der halbe „Stützpunkt“ der JN ein. Wir bemerkten sie zu spät. Sie entdeckten uns sofort, zogen ihre „Hasskappen“ über und kamen brüllend mit „Antifa, hahaha!“ auf uns zu. Nur der geistesgegenwärtigen Reaktion meiner Begleiterin ist vermutlich zu verdanken, dass die Nazis sich (vorerst) kleinlaut zurückzogen. Unglaublich, was ein „Ihr seid ja süß“ bei testosterongesteuerten Schwachköpfen auslösen kann. Leider hielt die Wirkung nur bis zum Frankfurter Bahnhof an. Wir rannten in den Supermarkt, sahen wie die Nazis vor der Tür auf uns warteten. Und dann passierte etwas Seltenes: es wurde geholfen. Nicht von der Polizei, auf die war geschissen. Wenn man sie brauchte kam sie nicht und wenn sie kam, brauchte man sie nicht. Die unerwartete Hilfe kam von der Kassiererin, die uns durch den Lieferantenzugang raus ließ. Von dort ging es dann im Laufschritt zum Gruppentreffen.

Gruppentreffen wurden nicht nur inhaltlich vorbereitet. Auch die Anreise wurde fein orchestriert. Es war immer klar, dass man bei der Ankunft am Bahnhof abgeholt wurde, damit niemand alleine laufen muss. Das war nicht nur zu Gruppentreffen so, sondern wurde schnell zur Alltagspraxis. Ankunftszeiten wurden mitgeteilt, die Genoss*innen warteten am Bahnhof. Alleine gehen versuchte man zu vermeiden. Wenn ich es mal musste, war der Blick in alle Richtungen stets präsent. Etwas, das bis heute geblieben ist, wenn ich mich im ländlichen Raum fortbewege. Ich kenne immer noch Leute, die auch mit dem Abstand zweier Jahrzehnte nur mit mulmigen Gefühl in ihre Herkunftsorte fahren und aus diesem Anlass manchmal ein Knüppelchen im Auto parat haben.

Keine falschen Vertraulichkeiten

Im Oktober 2018 schrieb Daniel Schulz in der taz einen wegweisenden Artikel: In „Wir waren wie Brüder“ beschreibt er seine Jugend in der Nachwendezeit. Er beschreibt, dass die meisten die Rechten kannten. Nicht nur aus der Fernperspektive, sondern von Nahem – zum Teil mit ihnen befreundet waren und im nächsten Moment vor ihnen davon liefen. Auch ich habe solche Erfahrungen gemacht, obwohl ich nicht vor Ort gelebt habe. Zum Beispiel in einer weiteren Episode in Frankfurt/Oder. Mitte der Neunziger saß natürlich auch die NPD im lokalen Parlament. Am Oderturm kam mir freundlich grüßend der NPD-Stadtverordnete der JN entgegen. Es fehlte nur noch der persönliche Handschlag und ein bisschen Smalltalk, ein „Und, was hast du heute Abend vor?“. Und doch war sonnenklar: Begegne ich dem Pfosten mit seiner Teutonengang, wird er im Zweifel der erste sein, der mit mir „Pflastersteinbeißen“ spielt.

Die rechte Hegemonie brechen – danke, Antifa

Coole Leute, die sich ihren Verstand nicht vernebeln ließen, widerständig waren und Haltung zeigten, gab es fast überall. Ich war und bin froh um jede Straße, jedes Dorf und jede Stadt, die eine funktionierende Antifa hat. Die Nazistrukturen aufdeckt, Nazis beim Namen nennt und im Zweifel auch vor Konflikten nicht zurückschreckt. Auch in vielen Kiezen Berlins konnte man sich nur aus einem Grund relativ frei bewegen: weil es eine starke Antifa gab, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie Nazis nicht nur nachhausediskutieren wird, sondern im Zweifelsfall auch nachhilft. Dort, wo es keine Antifa oder keine starken linken Strukturen gibt, ist auch die „Zivilgesellschaft“ schwächer, können Nazis frei und ungehemmt agieren. Sie können Räume besetzen und eine Meinungshoheit demonstrieren, unabhängig davon, ob sie sie real haben oder nicht. 

Kontinuitäten

Ich habe nie in Brandenburg gewohnt, aber fast immer in Brandenburg gearbeitet. Weder die Baseballschlägerjahre noch Nazis sind ein Brandenburger oder ostdeutsches Problem, sondern ein gesamtdeutsches. Diejenigen, die uns vor zwanzig Jahren auf die Fresse gehauen haben, diejenigen, die in Rostock, Mölln und Solingen zur Menschenjagd geblasen haben, sind nicht verschwunden. Es sind dieselben Leute, die wenig später als NSU oder heute in Hanau Menschen abknallen. Der rechte Terror von heute hat eine Vorgeschichte, die sich durch die Geschichte von 70 Jahren Bundesrepublik zieht: Eine des Ignorierens, Schweigens und Verharmlosens.

Der Hamster und sein Laufrad

Damals wie heute gilt es, nicht an der Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu verzweifeln. Auch wenn die Ignoranz gegen rechten Terror das nahe legt und der Politikbetrieb seine Betroffenheit demonstrativ vor sich herträgt. Es ist nicht die Zeit, mit den deutschen Verhältnissen Frieden zu schließen. Es ist Zeit, weiterhin wie der Hamster im Laufrad Strukturaufbau in der Fläche zu betreiben.

Michael Eckbusch, LV Brandenburg