„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ – zur politischen Kritik des Moralismus

Slum in Glasgow um 1871 /// Bild: Thomas Annan

Soziale Kämpfe weltweit werden zumeist moralisch gerechtfertigt. Es wird gegen die ungerechte Ausbeutung von Menschen und Natur protestiert, gegen den Reichtum des Nordens, den dieser auf Kosten des Südens anhäuft, gegen Steuerflucht oder gegen steigende Mieten in deutschen Großstädten. Neben einer bei der Wohnungsfrage auch rechtlichen Argumentation wird dabei auf Anstand gepocht, werden Renditeansprüche als unverhältnismäßig zum erzeugten Leid abgewiesen und ganz allgemein die Ungerechtigkeit angeprangert. Gegen Empörungen von unmittelbar Betroffenen ist aus Sicht einer Linken, die für eine radikaldemokratische Veränderung der Gesellschaft eintritt, zunächst nichts einzuwenden, sofern sich diese Empörung in konkreten Kämpfen gegen das eigene Leid zeigt. Wohl aber sollte man sich gegen einen bloß moralisierenden Blick auf soziale Kämpfe, der sich nur auf die handelnden Individuen richtet, wenden. Nicht nur wird so die gesellschaftliche Dimension ausgeblendet, der Fokus auf die Einzelnen ist vielmehr selbst ein historisch spätes Produkt der bürgerlichen Gesellschaft.

Auch wenn im Folgenden die moralische Sichtweise kritisiert wird, bedeutet dies nicht, dass stattdessen einfach möglichst unmoralisch zu leben sei. Das Problem an der Moral, so soll gezeigt werden, ist nicht, dass sie den Blick auf die Geschädigten bestimmter Handlungen legt, sondern dass ihr Blick hierauf selbst verkürzt ist und damit wider Willen eine Ordnung befestigt, gegen die sie aufbegehren müsste.

Moral ist – in ihren besten Ausprägungen – zunächst eine Selbstermächtigung der Individuen gegen schlechte Verhältnisse und Ideologien. Die moralische Empörung hat dabei universelle Rechte und Pflichten für alle Gesellschaftsmitglieder zum Ziel. Was als moralisch falsch gilt, ist moralisch falsch für alle Menschen. Moralität richtet sich folglich immer auch gegen Sonderrechte der Herrschenden. 

Diesen Universalismus in der Moral hat Christine Zunke in einem lesenswerten Artikel gegen die vor allem von der Gruppe „GegenStandpunkt“ 1 vertretene, herausragende Bedeutung des Eigeninteresses für die Überwindung des Kapitalismus hervorgehoben. Für den „GegenStandpunkt“ liegt es im Interesse der Menschen, den Kapitalismus zu überwinden, weshalb es keiner moralischen Begründung der Kapitalismuskritik bedarf. Zunke argumentiert dagegen, dass die Berufung auf das Interesse jedes Einzelnen gerade nicht dazu geeignet sei, den Kapitalismus emanzipatorisch zu überwinden. Vielmehr laufe dies in letzter Konsequenz auf die vollständige Unterjochung aller hinaus. Käme es nur auf das Eigeninteresse an, müsse jede*r danach streben, sich alle anderen Menschen untertan zu machen. Erst so sei gewährleistet, dass jedes mögliche Bedürfnis befriedigt wird und dem Eigeninteresse nichts entgegensteht.

Allerdings hat die Berufung auf das Eigeninteresse der Menschen an der Überwindung des Kapitalismus auch ihre Berechtigung. Denn die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft setzt, wie auch die meisten Moraltheorien, dem Bestehenden ein zu erreichendes Ideal entgegen. Dabei geht es in der Moral um ein unbedingtes Sollen. Die Menschen sollen auf eine bestimmte Art und Weise handeln, weil sie moralisch richtig ist. Das moralische Sollen kann seine Legitimation nicht den tatsächlichen Handlungen der Menschen verdanken. Es muss unabhängig davon gelten, sofern es für die Handlungen der Menschen zuallererst eine Richtschnur bieten soll. Damit entsteht allerdings das Problem, welchen Grund die Individuen überhaupt haben sollten, sich daran zu orientieren, sonst ließe sich die moralische Forderung nicht als etwas Erstrebenswertes rechtfertigen, dem jede*r unbedingt nachkommen sollte. Würde das moralisch Gebotene allerdings ohnehin gewollt, wäre eine Formulierung als Gebot hinfällig. Folglich muss das Gebotene zwar im Interesse der Menschen liegen, allerdings nicht in ihrem unmittelbaren, materiellen Interesse. Das Gebotene muss ein höheres Interesse ansprechen, ein Interesse am Guten. Daraus folgt dann leicht die Geringschätzung, die die Philosophie in den großen Hauptlinien gegenüber allem Körperlichen zeigte. Der Widerspruch des moralischen Sollens ist somit in den Gegensatz zweier, unterschiedener menschlicher Interessen eingetragen.

Gesellschaftskritische Grundlagen

Hat Moralität zunächst auch einen emanzipatorischen Gehalt, richtet sie sich letztlich doch gegen die Individuen. Weil Moral auf die*den Einzelne*n gerichtet ist, drückt sie sie*ihn nieder. Moralität ist dabei die angemessene Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs in der Vereinzelung unter kapitalistischen Bedingungen. Der Zweiteilung des menschlichen Interesses in gegensätzliche Antriebe entspricht der Widerspruch von Allgemein- und Privatinteresse unter kapitalistischen Bedingungen.

In einer Gesellschaft, in der die Menschen gemeinsam ihre Verhältnisse demokratisch gestalten, befänden sich das Allgemeine und das Besondere nicht mehr im Widerspruch. Das Allgemeine wäre nichts Anderes als das, worauf sich letztlich alle gemeinsam geeinigt haben. Im Kapitalismus dagegen muss beispielsweise der Staat den einzelnen Kapitalist*innen durchaus Einhalt gebieten und eine allzu krasse Ausbeutung der Arbeiter*innen verhindern. In der Konkurrenz der jeweiligen Kapitalist*innen ist eine möglichst umfassende Ausbeutung der Arbeiter*innen sinnvoll, um möglichst hohen Gewinn zu erzielen. Insgesamt kann dies aber dazu führen, dass die gesamtgesellschaftliche Arbeitsleistung abnimmt, weil bspw. die Arbeiter*innen zu erschöpft sind. Das besondere Interesse der Kapitalist*innen an einem möglichst hohen kurzfristigen, individuellen Gewinn steht hier also im Widerspruch zu ihrem Interesse als Klasse, ihre Gewinne auf Dauer zu stellen und beides steht selbstverständlich wiederum im Widerspruch zum Interesse der Arbeiter*innen an einem möglichst kurzen Arbeitstag bei vollem Lohnausgleich.

Entsprechend der gesellschaftlichen Verhältnisse stehen innerhalb der Moral das Eigeninteresse und das Interesse am Guten einander gegenüber. Die Einzelnen sollen ihr egoistisches Handeln so einschränken, dass es nicht dem moralisch Guten entgegensteht. 

Politische Ethik

Was bedeutet das nun aber für die konkreten Kämpfe innerhalb der Gesellschaft? Mischt man sich dennoch ein oder hält man sich einfach heraus und arbeitet darauf hin, dass sich die Menschen von einer ihnen gegenüber verselbstständigten Produktion befreien? 

Schon diese Alternative ist eine falsche. Nur in den konkreten sozialen Kämpfen, in die die Widersprüche des Kapitalismus eingehen, lässt sich seine Überwindung vorbereiten. Die Probleme lassen sich so zwar nicht vollständig lösen, sie lassen sich aber über jegliches für die kapitalistische Verwertungslogik erträgliche Maß hinaustreiben. Für die Wohnungsfrage würde dies eine grundsätzliche Infragestellung von Mieteinnahmen bedeuten, vor allem aber die Organisation einer breiten Opposition gegen Immobilienkonzerne und ihre Interessenverbände. In einer solch breiten Opposition ließen sich Forderungen nach einer Vergesellschaftung von Wohneigentum zwar nicht durchsetzen, werden hier aber die emanzipatorischen Forderungen so weit wie möglich getrieben, geraten sie schnell in unversöhnlichen Widerspruch zur bestehenden Gesellschaftsordnung. Das kann dazu führen, dass die sozialen Kämpfe ums Wohnen den Beteiligten verdeutlichen, dass es im Kapitalismus nicht um das Wohl der Menschen geht und er daher emanzipatorisch zu überwinden ist. Eine bloß moralische Kritik begibt sich dagegen in die Gefahr, gesellschaftliche Veränderungen nur an Individuen festzumachen und alle Hoffnung fälschlicherweise in den Austausch des jeweiligen Personals zu setzen. Anstatt die Schuld immer bei den Menschen zu suchen, geht es darum den Blick auf die Verhältnisse zu lenken, in die sie hineingeboren werden und konkret zu schauen, wie diese emanzipatorisch verändert werden können.

 Christoph Hövel, KV Oberhausen und Bildungsreferent im SBZ

  1. GegenStandpunkt ist ein aus der Marxistischen Gruppe hervorgegangener Zusammenschluss, der in der gleichnamigen Zeitschrift kapitalismuskritische Positionen entwirft, die häufig auf die Frage nach dem (Klassen-)Interesse hinter bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen hinauslaufen.