Sozialreformen

Ein Gegensatz zu an die Wurzel gehenden Veränderungen?

Im Zusammenhang mit der sozialen Frage steht in der radikalen Linken oft die Frage im Raum, wie diese im Sinne der lohnabhängig Beschäftigten, aber auch der Arbeitslosen und kleinen Selbständigen gelöst werden kann. Hier ist oft das Wort Revolution zu hören. Revolution, so die Definition im Wörterbuch, ist „der Vorgang, dass die in einem Staat bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse mit Gewalt zerschlagen und eine neue Regierung und/oder Gesellschaftsordnung etabliert wird.“ Mit anderen Worten: Eine an die Wurzel gehende Veränderung der Verhältnisse, die einhergeht mit einem völlig neuen politischen System. Die Reform hingegen wirkt erst einmal nicht zerstörend. Hier ist das Ziel, durch gesetzliche Maßnahmen und gewerkschaftliche Kämpfe konkrete Verbesserungen zu erreichen, wie beispielsweise Lohnerhöhungen, oder die Forderung nach Arbeitszeitverkürzungen, die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien 1 und so weiter. Wir Falken haben uns zum Ziel gesetzt den Sozialismus zu errichten, eine Gesellschaftsform also, die den Kapitalismus beseitigt und an seine Stelle eine Form des Zusammenlebens setzt, in der die Menschen durch gemeinsames Planen ihre Güter produzieren und untereinander aufteilen. Zwangsläufig müssen wir uns also die Frage stellen, wie wir dieses ehrbare Ziel denn erreichen wollen und können.

Die Revolution als einziger Weg

Ein Teil der Linken plädiert aufgrund dessen für die Beseitigung des bürgerlich-kapitalistischen Staatsorgans. Laut Marx ist dieses nämlich die Kraft, die durch ihre Rechtsordnung erst die Voraussetzungen für kapitalistisches Wirtschaften schafft. (Stichworte hier: Schutz des Privateigentums an Produktionsmitteln durch die Exekutive, somit Schaffung einer Konkurrenzgesellschaft, somit Hervorbringung von Gegensätzen und Verlierer*innen). Für die Notwendigkeit, den Staat in seiner jetzigen Form abzuschaffen kann demnach nur die Revolution das Mittel zum Zweck sein. Der Grund dafür sei, dass die Reformen entweder scheitern, weil sie zum Beispiel nicht zu finanzieren sind oder bestimmte Kapitalfraktionen durch die Furcht, Gewinneinbußen zu erleiden, mit der Verlegung des Unternehmens drohen, was dem Staat geringere Steuereinnahmen bescheren würde. Diese Linken gehen auch davon aus, dass bestimmte Gesetze zur Marktregulierung dafür sorgen können, dass die Arbeiter*innenklasse befriedigt wird, sich mit den Verhältnissen arrangiert und das Ziel des Sozialismus nicht (mehr) verfolgt.

Die Reform

Die sogenannten Reformer*innen meinen, den Staat für ihre Interessen nutzen zu können. Sie verfolgen das Ziel, durch die Regierungsübernahme und/oder die Organisierung in Gewerkschaften und Vereinen den gesetzlichen Rahmen so zu verändern, dass die Lohnabhängigen immer bessere Bedingungen vorfinden und durch die Regulierungen des Marktes Schritt für Schritt eine andere Gesellschaftsform erreicht werden kann. Ihre Intention ist dabei, nicht gewaltsam vorgehen zu müssen, beziehungsweise mit weniger Gegenwehr durch die Kapitalseite bedrängt zu werden.

Muss das ein Gegensatz sein?

Schon vor hundert Jahren haben sich Sozialist*innen mit dieser Frage beschäftigt. Auch Rosa Luxemburg in ihrem Werk „Reform oder Revolution“. Sie schreibt dort: „Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist.“

Sozialreformen und revolutionäre Umstürze werden bei ihr also nicht als Gegensatz begriffen. Und das ist auch heutzutage noch der richtige Ansatz.

Gesellschaftliche Veränderungen müssen angegangen werden, sie kommen nicht von selber. Wenn sich die Menschen nicht organisieren, ob in Gewerkschaften, Parteien oder Vereinen und gemeinsam für höhere Sozialleistungen und verschiedene kleinere Verbesserungen kämpfen, werden bereits errungene Fortschritte wieder nieder gemacht. Zu sehen ist das gerade in Österreich oder Frankreich. Die Regierungen dort wollen überall Mittel kürzen, die Lohnabhängigen das Leben erleichtern. Sei es bei der Wochenarbeitszeit, bei den Löhnen oder im Gesundheitswesen. Um konkurrenzfähig zu bleiben und längerfristig eine starke Wirtschaft aufbauen, beziehungsweise halten zu können, muss möglichst viel Geld eingespart und erwirtschaftet werden. Das bedeutet auch, dass es für Unternehmen attraktiv sein muss, im eigenen Land zu investieren und das ist es natürlich, wenn am Ende für den*die einzelne*n Kapitalisten*in möglichst viel Gewinn herausspringt. Da sind Gesetze, die einen hohen Mindestlohn versprechen oder bestimmte Umweltschutzmaßnahmen erfordern, erschwerend und stellen oft eine schwierige Hürde zur Gewinnmaximierung dar.

Der Kampf um Verbesserungen stellt dieses Prinzip erst einmal nicht in Frage, ein höherer Lohn kann eben auch nur ausgezahlt werden, wenn am Ende trotzdem das Kapital gewinnt und genügend Umsatz macht. Wenn es dem Unternehmen weiterhin gut geht und es nicht droht niederkonkurriert zu werden oder aufgekauft zu werden.

Das bedeutet auch, Sozialismus und eine planwirtschaftliche Ordnung können nicht allein durch Reformen erreicht werden, am Ende muss mensch das Grundprinzip aus den Angeln heben. Gewerkschaftsarbeit und auch Regierungspolitik innerhalb des Kapitalismus sollte darauf ausgerichtet sein, dem Kapital so viel abzutrotzen wie es möglich ist, aber eben auch die Massen zu klassenbewussten Persönlichkeiten „erziehen“, die ihre Stellung in der Gesellschaft erkennen und irgendwann in der Lage dazu sind, sich effektiv zu wehren und einen Schritt näher an die befreite Gesellschaft zu bringen.

Ein möglicher Weg zur befreiten Gesellschaft

Die heutigen Gewerkschaften, zumindest in Deutschland, die durch die Sozialpartnerschaft gut im System integriert sind, werden bei der derzeitigen Führung nicht dazu in der Lage sein. Momentan setzen diese auf den Kompromiss zwischen Arbeitgeber*innen und Lohnabhängigen. Durch die Auseinandersetzungen, die diese aber täglich mit dem Kapital führen, kann sich durchaus ein stärkeres Klassenbewusstsein der Lohnabhängigen entwickeln. Der gemeinsame Erfolg im Arbeitskampf kann praktisch aufzeigen, dass der Zusammenschluss und gemeinsame Kampf wichtig ist, um der Lösung der sozialen Frage näher zu kommen.

Damit sich die Arbeiter*innen nicht mit dem Erreichten zufrieden geben, müssen Linke sich in die Kämpfe einmischen und die Forderungen und den Kampf radikalisieren. Der allgemeine Rechtsruck muss bekämpft werden, um einen Linksruck zu entfalten, der auch den Diskurs wieder mehr auf die soziale Frage drängt, anstatt auf die Spaltung derer, die das objektive Interesse haben dem Joch dieser Gesellschaft zu entweichen und ein für alle Mal ein Ende zu setzen.

Die Lösung der sozialen Probleme der Menschen muss also heißen: Ja zu an die Wurzel gehende Veränderungen und Ja zu kleinen Reformen! Der Sozialismus wird nicht einfach morgen vor der Türe stehen.

Nadim Shukrallah, Kreisverband Köln

  1. „Industrie, deren Produkte für die anderen Industriezweige unentbehrlich oder äußerst wichtig sind“, in Deutschland wären das zum Beispiel die Automobil- und Chemieindustrie.