Behinderung vom Staat in Deutschland

Die Notwendigkeit sich den Scheiß bewusst zu machen und radikal drüber zu labern

Im letzten Dezember sagte eine SPD-Abgeordnete im Bundestag vor der Abstimmung des Bundesteilhabegesetzes, die Sorgen behinderter Menschen seien nun „gehört“ worden – darauf, „erhört“ zu werden, gebe es kein Recht. Sie tat das vor einem Parlament, welches 80 000 behinderte deutsche Staatsbürger*innen gar nicht wählen dürfen.

Im Vorfeld war viel passiert. Abseits vom linken Mainstream hatte eine relativ kleine Gruppe engagierter behinderter Aktivist*innen der Behindertenbewegung mehrere Jahre lang für ein Gesetz gekämpft, das vieles einfacher machen sollte. Vor allem die persönliche Assistenz 1 im Alltag sollte endlich eine richtige Perspektive geboten bekommen, um dort die durchgehende Selbstbestimmung in greifbare Nähe zu rücken. Umso größer ist die Ernüchterung nach dem Gehörtwerden. Der faktische Zwang, in einem Heim zu wohnen, ist für viele Menschen noch da, genauso wie das zwangsweise Zusammenlegen von Freizeitaktivitäten und die Unterhaltspflicht für Eltern von erwachsenen Menschen, die Eingliederungshilfe [Eine Hilfe, die es Menschen erlaubt ein unabhängiges selbstbestimmtes Leben zu führen. Steht in Abgrenzung zur fremdbestimmten Versorgung durch Institutionen oder Angehörige.]beziehen. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit es dem Staat gelingt, behinderten Menschen bei dem fast schon unterwürfigen Bitten, ihnen doch endlich zumindest die gleichen erbärmlichen Rechte einzuräumen wie allen anderen auch, immer noch in die Beine und Speichen zu treten.

Aussortierung und systematischen Ausschluss checken

In allen Gesellschaften konzentrieren sich behinderte Menschen ökonomisch ganz unten. Das ist in Deutschland nicht anders. Daher ist es wichtig, sich immer wieder vor Augen zu führen, vor welchem Hintergrund wir überhaupt über Inklusion sprechen.

Deutschland ist zum Beispiel ein Land der Sonderpädagogik. Mindestens seit den 1950er Jahren gibt es eine relativ ungebrochene Tradition der Aussonderung von als “lernbehindert” bezeichneten Kindern. In deutschen Sonderschulen sitzen sogenannte “lernbehinderte” Schüler*innen die in anderen Ländern gar nicht als solche bezeichnet würden – Sonderschulen für “Lernbehinderte” gibt es laut GEW tatsächlich nur hier und auch ihr Anteil geht je nach Bundesland weit auseinander. Eine allgemein gültige, aussagekräftige und haltbare Definition dessen, was eine Lernbehinderung eigentlich ausmacht, gibt es nicht. Trotzdem scheint gerade die Sonderpädagogik über die nötigen Konzepte für eine inklusivere Schule zu verfügen, die Positionspapiere des Verbandes Sonderpädagogik erwecken jedenfalls diesen Anschein. Es spricht Bände über die Ignoranz unserer Gesellschaft, dass es einer Fachdisziplin gelingt, die fast vollständige Segregation behinderter Menschen herbei zu diagnostizieren (ich habe in meiner ganzen Schulzeit kein anderes sichtbar beeinträchtigtes Kind getroffen) und sich auf dieser Grundlage noch eine Expert*innenrolle anzudichten. „Kommst du behindert rein, kommst du behinderter wieder raus“. Und das System ist nicht auf deiner Seite. Wer einmal eine Sonderschule betreten hat, hat kaum Chancen wieder rauszukommen.

77 Prozent der Schüler*innen mit dem sogenannten Förderschwerpunkt Lernen schaffen keinen Abschluss. Abitur ist faktisch unmöglich. Danach wartet die Werkstatt. Unter dem Vorwand, dass „der erste Arbeitsmarkt“ mit derart ausgebildeten Menschen nichts anzufangen weiß, arbeiten in Deutschland ca. 280 000 Menschen in sogenannten Werkstätten. Diese Zahl wächst stetig und es finden sich dort neben der aussortierten Klientel aus dem Sonderschulsystem zunehmend Menschen, die sich schon einmal auf dem ersten Arbeitsmarkt kaputt gearbeitet haben. Der durchschnittliche Werkstattsmonatslohn betrug im Jahr 2016 77 Euro netto (Staat und Werkstätten sind so frei die Kosten für Heimunterbringung anzurechnen. Sonst liegt der Betrag ca. doppelt so hoch). Dafür würdest du dir nicht mal die Schuhe anziehen? Ich auch nicht. Misshandlungen, die erst nach Jahren an die Öffentlichkeit kommen? „Bedauerliche Einzelfälle.“ Mindestlohn? „Hier kriegst du doch alles was du brauchst.“

Das Problem sind nicht die Beeinträchtigungen

Behinderung steht als soziales Phänomen nie für sich. Niedriges Einkommen der Eltern und Sonderschule zum Beispiel korrelieren sehr unmittelbar miteinander. In meiner eigenen Grundschulklasse hatten wir mehrere Kinder, die auf Sonderschulen abgeschoben wurden. Der offensichtliche Grund? Sie konnten halt nicht so gut deutsch. Bis in die 90er Jahre wurden in Deutschland jedes Jahr etwa 1000 junge Mädchen und Frauen ohne ihre Zustimmung sterilisiert.2 In Ausnahmefällen ist das auch heute noch möglich (Bei einer gesundheitlichen Gefährdung der Frau durch eine Schwangerschaft z.B.). Und so weiter und so weiter… Weil das Behindert-werden nun so stark mit anderen besonders beschissenen Ausprägungen von Unterdrückung korreliert, ist es wichtig ganzheitlich drüber nachzudenken. Behinderung ist eigentlich ein gutes Thema, weil es die Beschissenheit im Bestehenden in allen ihren Facetten offenbart. Es müsste und könnte in unserer Kritik viel stärker präsent sein. Es ist auch ein radikales Thema, weil die konsequente Einforderung der Inklusion aller Menschen mit unserer herrschenden Gesellschaftsordnung nunmal nicht zu machen ist.

Und wohin jetzt mit dieser Inklusion?

Inklusion steht seit einigen Jahren als Allheilmittel im Raum, das irgendwie alles besser machen soll. Wenn ich daran denke was für Strukturen damit betraut sind diesen Prozess durchzuführen wird mir angesichts der oben geschilderten Zustände angst und bange. Inklusion ist einer dieser Begriffe, die in den letzten Jahren große Verdrehungen erlebt haben. Eine Sonderschule ist in etwa so inklusiv wie Afghanistan ein sicheres Land ist und trotzdem scheint Konsens zu sein, dass wir uns in Deutschland eigentlich nicht zu beschweren brauchen. Die offensichtliche Einteilung von Menschen in gesund und fehlerhaft wird als „bedarfsorientiert inklusiv“ verklärt und findet so immer öfter Legitimation für längst überfällige Strukturen. Und so bleibt Inklusion eine Vokabel, unter der die meisten Menschen die Einbeziehung behinderter Kinder in Regelschulen verstehen. Daran, dass Schulen autoritäre Orte bleiben, egal ob du mit den anderen hin darfst oder nicht, ändert das natürlich nichts. Auch nicht daran, dass die Segregation nicht in der Schule endet, sondern sich über den Arbeitsmarkt und den Zwang in einem Heim zu leben in alle Lebensbereiche fortsetzt und starke Interessen dahinter stehen, dass das auch so bleibt. Gleichzeitig machen sich die ersten schon wieder Gedanken, dass es angesichts des Fachkräftemangels an der Zeit ist, das ungenutzte Potenzial behinderter Arbeit auszubeuten. Das bedeutet, dass es sehr drängend ist, die Inklusion endlich den Menschen zu entreißen, die die ganze Scheiße planen und ihr eine radikale Note zu verpassen. Ergo, sich nicht länger mit heißer Luft am Holzbein rumführen zu lassen. Ohne einen linken und weit gefassten Anspruch an Inklusion wird man die oben angerissenen Probleme nicht los – „erhört“ wird man eben nicht. Eine Inklusion, die den Namen auch verdient ist eine die für alle, immer und überall (und eben nicht nur in der Schule) gilt, die sich nicht durch Sachzwänge, medizinische Urteile, Elternentscheidungen oder was auch immer aushebeln lässt und die nicht darauf abzielt die Zustände und Zwänge der Mehrheitsgesellschaft einfach universal zu machen.

Frieder Kurbjeweit, Kreisverband Köln

  1. Eine Hilfe, die es Menschen erlaubt ein unabhängiges selbstbestimmtes Leben zu führen. Steht in Abgrenzung zur fremdbestimmten Versorgung durch Institutionen oder Angehörige.
  2. Zum Weiterlesen: Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung. Verbrecher Verlag